Hagard by Lukas Bärfuss

Hagard by Lukas Bärfuss

Autor:Lukas Bärfuss [Bärfuss, Lukas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wallstein Verlag
veröffentlicht: 2017-02-15T00:00:00+00:00


ALS SIE DIE STRAßE mit den Eisenbahnerhäuschen entlanggehen, rutscht ihm das Herz in die Hose. Wem folgt er da? Ist sie es, die neben diesem Zweimeterhünen vor ihm geht? Ein Zweifel bleibt und nagt weiter. Er riecht sie nicht, nur den Dreck und den Abfall. Das Wasser schwemmt den Moder auf. Seine Witterung ist gestört, das liegt an diesem Typen, der neben ihr das Material trägt und ihren Geruch mit seinem Geruch stört. Die Haare, der schlanke Hals, die Hüften. Sie muss es sein. Aber er traut seinen Augen nicht.

Bei der Kunstgewerbeschule steigen sie in die Straßenbahn. Wenn das so weitergeht, wird er sich eine Monatskarte kaufen müssen. Gut. Wo wollen sie hin?

In die Technische Hochschule. Das weiß er jetzt noch nicht, aber er wird es gleich erfahren. Sie werden bald aussteigen und den Hügel erklimmen, er wird weiter außer Atem kommen. Noch sitzt er. Noch fühlt er sich einigermaßen bei Laune. Aber das wird nicht lange halten. In den Lichthof der Hochschule wird er sich schleppen, wo die beiden ein Plakat aus dem Köcher ziehen, das Dreibein ausklappen und sich mit Prospekten bewehrt in die Menge stellen.

Ein Banner überspannt den Lichthof, darauf ein Vexierbild in der Form einer Hortensie, die Blütenkelche als Hirnwindungen.

Es ist die Woche des Gehirns, Brain Fair, eine Messe dem Zentralorgan, damit man es preise in seiner Erhabenheit, ein Heil der Biochemie und Bioelektrik. Allenthalben glimmen Synapsen, entladen sich Aktionspotentiale im Gewusel von Studenten und Dozenten, die sich um die Schaukästen und Monitore drücken. Er setzt sich matt und ausgelaugt auf eine Treppe, die zu den Auditorien führt. Er sieht sie, aber er kann nicht erkennen, womit sie beschäftigt ist, vermutlich verteilt sie Prospekte, weiß Gott, zu welchem Zweck. Er ist auf eine Hirningenieurin hereingefallen, auf eine Priesterin des Zerebralen.

Er spürt das Bewusstsein einer besonderen Elite, die sich hier versammelt hat. Und sie warten auf etwas, er empfindet eine Aufregung, Adrenalin. Etwas Besonderes scheint im Anzug zu sein, ein Königsbesuch oder die Bekanntgabe eines Preisträgers, und tatsächlich schreitet nun eine Gruppe von älteren Herren durch den Haupteingang, worauf sich die Menge teilt. Ein Applaus ist zu hören, ein Mann in der Mitte, in seinen Sechzigern, mit hoher Stirn und schütteren roten Haaren, die Hüften steif, hebt die Hand und bedankt sich lächelnd. Ein Kerl, wahrscheinlich ein Techniker, spricht ihn an, und gleich steigen sie zu dritt links die Treppe hoch. Eine weitere Minute verhält sich die Menge abwartend, dann kommt Bewegung auf, die Tassen werden abgestellt, der Lichthof leert sich, und die Menge folgt den dreien den Weg hinauf in das Auditorium Maximum. Das Plakat steht verwaist, das Mädchen und der Schlacks haben sich eingereiht, und er beeilt sich, nicht als Letzter in den Saal zu kommen.

Es ist eine weite Halle mit langen Sitzreihen und klapp- und schwenkbaren Tischchen, die man sich vor die Brust drückt, wahrscheinlich, um aufrecht sitzen zu bleiben und nicht einzuschlafen während der Langweiligkeit, die da vorne präsentiert wird von einem Rotschopf, der vor dreihundert Jahren das letzte Mal die Sonne gesehen hat.



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